Arthur Hübscher: Leopold Ziegler

Es ist still geworden um den fast erblindeten Philosophen am Bodensee. Sein Ruf ist nicht gehört und nicht verstanden worden. Was er vor Jahren vorausgesagt hat, ist eingetreten: der allgemeine Verfall der Kultur.

Die Kultur – sie ist sein großes Thema gewesen, seit er, als 15jähriger, bei Schopenhauer die berühmte Stelle über die Geschichte der Philosophie, der Wissenschaft und der Künste gelesen hat, die schuldlos und nicht blutbefleckt neben der Weltgeschichte gehe. Mit 22 Jahren, im Banne Eduard von Hartmanns, bestimmt er Kultur als die bewußte Verwirklichung dessen, was die Natur allenthalben unbewußt vollbringt. Nur darin sei der Mensch vom Naturwesen unterschieden, daß er die Idee seiner Menschheit zu einer weltumspannenden, metaphysischen Idee erweiterte. Ein paar Jahre später erfolgt der Einbruch Nietzsches: Die „Florentinische Introduktion“ erscheint, das philosophische Reisebuch, lange vor den Werken Keyserlings: Hier wird Ästhetik nicht vom Betrachter, sondern vom Künstler aus betrieben, – schon dies verrät den Einfluß Nietzsches. Ziegler plant eine Schrift, über die Krisis der Ideale, er schreibt ein Buch über Volk, Staat und Persönlichkeit, das den Heroismus Nietzsches unvermerkt in den Quietismus Augustins überleitet. „Verantwortlichkeit: aber im Geist altchinesischer, altjapanischer Staats- und Gesellschaftsweisheit; Gerechtigkeit; aber im Geist der platonischen Politik, aristotelischer Ethik; Gläubigkeit: aber im Geist eines geklärten und veredelten, meinetwegen auch verheidnischten Augustinismus, das war im Jahre 1916 mein Programm von kommenden Dingen“. Wir erkennen heute den zweifachen zeitgeschichtlichen Sinn dieses Programms: einmal als „Grabgesang auf die idealistische Kulturphilosophie“ – es fällt in die gleiche Zeit wie Paul Ernsts Mahnruf vom Zusammenbruch des deutschen Idealismus und das Buch von Rudolf Pannwitz über die Krisis der europäischen Kultur; dann aber als Vordeutung auf den umfänglichen Entwurf einer atheistischen Mystik im „Gestaltwandel der Götter“.

Arthur Hübscher, Denker unserer Zeit I., München 2 1958, S. 114 f.