Otto Flake: „Leopold Ziegler, ‚Spätlese eigener Hand‛“

„Leopold Ziegler, ,Spätlese eigener Hand’. Leopold Ziegler blickt auf sein Werk zurück“.

Leopold Ziegler, 1881 in Karlsruhe geboren, ansässig in Überlingen, einer der Pfeiler der modernen Philosophie, hat für sein letztes Buch, das bei Kösel in München erschien, einen trefflichen Titel gefunden: „Spätlese eigener Hand“.

Der 468 Seiten starke Band wird mit einem Aufsatz eröffnet, der „Zur Geschichte meiner Schriften“ heisst und nicht ohne Melancholie feststellt, dass zur Not noch die vier Hauptwerke in den Händen der wenigen sind, die heute dem Anruf des Geistes folgen – die früheren oder kleineren oder ergänzenden Schriften aber ein schattenhaftes Dasein fristen.

Die Spätlese bietet eine Gelegenheit, auch diese Arbeiten heranzuziehen und bringt im übrigen wichtige Stücke aus den Hauptwerken. Sie ist vom Verlag als Werbebuch, vom Philosophen selbst als Überblick gedacht. Wir hoffen, dass der Band Beachtung findet und Leopold Ziegler neue Leser zuführt – in einem Zeitalter, das sich Philosophen so wenig günstig erweist wie der Persönlichkeit überhaupt. Es ist nicht mehr Goethe- oder Humboldtzeit. Das Geistige wirkt nicht mehr weit hinaus ins Reich der Gebildeten – ihm droht oder vollendet sich bereits das Schicksal, Privatangelegenheit und Luxus zu werden.

Die „Spätlese“ zerfällt in drei Teile. Der erste behandelt Fragen der Ästhetik, die einst den jungen Philosophen beschäftigten. Der zweite bewegt sich im Sektor Wirtschaft, Staat, Gesellschaft. Der dritte führt in ontologische Probleme und gibt einen guten Begriff davon, was der Autor über die Vermenschlichung zu sagen hat.

Leichte Lektüre ist dieses Buch nicht. Ziegler, ein Meister des Tiefgangs, hat eine Ader in sich, die vom Barock herkommt. Wir gehören alle wesenhaft einem der vergangenen Jahrhunderte, dem scholastischen, dem mystischen, dem reformatorischen, dem des Voltaire oder des Leibniz an. Mit Voltaire hat Ziegler nichts gemeinsam, einiges mit den Männern, denen die Perücke gut stand, denen sie Würde und Ordnung verlieh.

Das gilt nicht nur vom Tempo des Vortrags, sondern auch von der Sprache. Er liebt es, auf die geheimeren Aussagen der Sprache zu lauschen und ihr ungewohnte Wortbildungen abzugewinnen. Man spürt die architektonische Freude, mit der er die an bedeutsamen Ausdrücken so reiche deutsche Sprache benutzt, um inhaltsschwere Sätze zu bauen; jeder kommt wie ein rechtschaffen beladener Frachtwagen daher. Der Begriff Gestaltwandel, der im Titel einer seiner Bücher steht, ist in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen (. . .).

Auf allen Gebieten, denen Ziegler, sich zuwendet, sind seine Kenntnisse profund. Er hätte mehr als einem Lehrstuhl wohl angestanden. Universalist, hat er seine Stellung dort bezogen, wo antike, christliche, buddhistische Denkrichtung sich trennen – oder aber, auf höherer Ebene, zusammenfallen.

„Buch der Woche“, SWF, 31.10.1954.