Max Horkheimer: Leopold Ziegler

Das Werk des Philosophen Leopold Ziegler zeugt von so seltener Kraft des Denkens, von so rastloser Bemühung um die Wahrheit, von solcher Weite des Wissens, daß ihm kein Denkender die Achtung versagen wird. Es umfaßt weite Gebiete des religiösen, ästhetischen, philosophischen Lebens in der Vergangenheit und Gegenwart, ohne daß es ein festes System von Prinzipien enthielte[. . .].

Inwiefern Ziegler durch seinen Begriff der schöpferischen Religiosität, den er mit dem „anschauenden Verstand“ ohne weiteres in eine innige, die Zeiten überspannende Verbindung bringt, etwas Wesentliches an der Erstehung der Religionen getroffen hat, mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls ist seine Theorie der Religionsschöpfung aus reiner Innerlichkeit ein Spezialfall der philosophischen Überzeugung, daß die Geschichte überall oder wenigstens in ihren entscheidenden Zügen der Ausdruck von geistigen Wesenheiten sei. Es gibt bei Ziegler nicht bloß einen festen Typus „deutscher Mensch“, aus dessen Wesensgesetz die deutsche Geschichte zu verstehen sei, nicht bloß eine „metahistorische Intention deutscher Historie“, sondern auch einen Geist und Sinn „der“ Geschichte. Ohne solche Vorstellungen einer idealistischen Metaphysik ist Kulturphilosophie im Sinne Zieglers freilich nicht wohl möglich, doch erscheinen sie in seiner ziemlich sorglosen Verwendung nicht glaubwürdiger als in den älteren Systemen, in denen sie ihren Ursprung haben. Die geschichtlichen Veränderungen geben keine Kunde von der Einheit eines Sinnes, gleichviel ob er einem Weltgeist zugeschrieben oder als inneres Wesensgesetz eines Typus Mensch erschaut werden soll. Jeder Mythos, der aus solcher Deutung entspringt, auch der vom „Heiligen Reich“, ist ebenso überlebt wie nach dem Gestaltwandel die alten Götter. Nicht bloß, wie Ziegler meint, die positive Theologie, sondern auch solche positive Metaphysik trägt das Zeichen der Vergeblichkeit auf der Stirn. Heute richtet sich gegen Ziegler selbst, was er gegen den Lehrer seiner Jugend geschrieben hat: wir sind „der Weltbegriffe von Gleichnissen satt und ihrer uneinlösbaren Symbolik müde“.

Max Horkheimer, Gesammelte Schriften Bd. 2; Philosophische Frühschriften 1922 – 1932. Frankfurt/M. 1987, S. 162, 170.