Marc Jongen: Religion zweiter Ordnung

Leopold Zieglers „Gestaltwandel der Götter“

Neben Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“ (1918/1922) oder Max Schelers „Vom Ewigen im Menschen (1921) gehört Zieglers Buch zu den herausragenden Versuchen jener Krisenzeit, das unerschüttert Gültige der abendländischen Tradition aus den Trümmern der Fortschritts- und Humanitätsideale in (kultur)philosophischer Grundlagenreflexion ans Licht zu heben. „Die Krisis der Ideale“ hießt bezeichnenderweise der erste Entwurf. Das Dilemma all dieser Versuche bestand darin, daß es zwar ein Bedürfnis nach Wahrheiten und Werten gab wie selten zuvor, jedoch keinerlei geistige oder institutionelle Traditionen, die nach dem millionenfachen sinnlosen Tod in den Materialschlachten des ersten Weltkriegs noch glaubwürdig waren. Dieser Zwiespalt erzeugte eine mehr oder weniger paradoxe Mentalität: die sogenannte Konservative Revolution. „Werte schaffen, die zu erhalten sich lohnt“, so charakterisierte Arthur Möller van den Bruck die ansonsten wenig kohärente Geistesströmung. Es handelt sich dabei um folgende Denkfigur: Man übernimmt zwar den revolutionären, konstruktivistischen Gestus der Moderne, aber nicht, um ein philosophisches oder gesellschaftliches Erneuerungsprogramm nach modernen, aufklärerischen Prinzipien zu entwerfen, sondern um, nach dem Vorbild von Nietzsches „befehlenden Philosophen“, eine neu-alte Tradition zu konstruieren, eine Tradition-Als-Ob.

Mit seinem Pathos der „Tat“, seinem Willen zur „Religion überhaupt“, gehört auch Zieglers „Gestaltwandel der Götter“ in den Umkreis der Konservativen Revolution. Allerdings ist sein Gestus, verglichen etwas mit dem von Ernst Jünger oder Carl Schmitt, geradezu milde und human, da es ihm, ganz abgesehen von seinem eingefleischten Antimilitarismus im Politischem, von vornherein darum zu tun ist, einen zeitlosen Kern der Religion zu finden, der trotz allem Gestaltwandel der Götter erhalten bliebe. Die Entscheidung für das „alte Wahre“ ist eigentlich immer schon getroffen: „Denn im Grund besteht kaum viel Zuversicht, daß künftighin etwas geschehe oder entstehe, was bisher überhaupt noch nie und nirgends oder gewesen war [. . .] Kindisch ist der Glaube an menschliche Zukünfte, die sämtliche menschheitliche Vergangenheiten auf den Kopf stellten und mit den Beinen strampeln ließen, und gereifte Geister, gereifte Seelen werden von allen künftigen Äonen höchstens nur vollere Verwirklichung erwarten, was immer eigentlich beabsichtigt, noch nie aber durchzusetzen war“.

In dieser Passage kündigt sich bereits der spätere Denkweg des Autors an, der ihn in deutlicher Analogie übrigens zur Entwicklung der Romantik immer tiefer in die Vision einer „integralen Tradition“ im Zeichen des christlichen Kreuzes führen wird. Nachdem im „Ewigen Budhho“ zunächst noch ein weiterer Schritt in Richtung auf eine atheistische Religionsphilosophie erfolgte, ging das labile Gleichgewicht zwischen Tradition und Moderne in der Folgezeit immer mehr zugunsten der Tradition verloren, so daß Ziegler im Alter seinen „Gestaltwandel“ ein „mir selbst tief unheimliches, mir selbst nie recht geheures Buch“ nennen konnte.

Nähert man sich aber seinem faszinierenden, noch immer sträflich brachliegenden Spätwerk, so kommt man nicht umhin, den „Gestaltwandel der Götter“ als den Keimling seiner eigenen philosophischen Metamorphose wahrzunehmen. Man wird daraus lernen, daß es einen modernen nihilistischen Sonderweg in die Tradition gibt, und sich fragen, ob die metaphysisch begründete Tradition womöglich nie etwas anderes war als das Ergebnis einer von jeder Generation neu zu vollbringenden Projektion und Beschwörung – einer „Ahmung“ im Zieglerschen Sinn.

_Sinn und Form. Beiträge zur Literatur 54 (2002)
H.4, S. 474 – 476._