Manfred Bosch: Zur insgeheimen Aktualität Leopold Zieglers

Wer sich je mit Leopold Ziegler beschäftigt hat, dem ist geläufig, was man die Ziegler-Probe nennen könnte. Das Verfahren besteht ganz einfach darin, den Namen dieses philosophischen Einzelgängers zu nennen und – abzuwarten. Das Ergebnis, in der Literatur über Ziegler fast schon ein Topos, ist praktisch immer das gleiche: Fehlanzeige, Ratlosigkeit, Nachfrage. Das Spiel läßt sich nicht erst anstellen, seit der Mann tot ist. Mitunter könnte man glauben, sein Werk sei zu einer Antiquarie herabgesunken, verlorenes und aufgegebenes Schwemmgut am Strand nur noch selten begangener philosophischer Küsten, gerade noch für die eine oder andere Dissertation gut, die dann wiederum in eine neue Vergessenheit eingeht, ins Massengrab einer akademischen Reihe, deren Verlagsorte wie zum Hohn München/ New York/ London/ Paris heißen.

Man tritt Ziegler wohl nicht zu nahe, wenn man behauptet, von manchem Wasserträger der Moderne aus der drittletzten Reihe ließe sich mehr hermachen als von ihm. In der Tat wären gefragtere Anlässe für Kongresse, Tagungen und Feiern denkbar als dieser, der die Feuilletonseiten schwerlich zum Rascheln bringen wird. Doch Zieglers Schreibzimmer lag nun mal an keinem Corso; ja – sein Werk konnte nur in einem akademischen, einem geographischen und wohl auch gesellschaftlichen Abseits entstehen, in der klausnerischen Abgeschieden­heit einer spirituell anregenden Landschaft, in der es sich, um Zieglers Grabspruch aufzunehmen, „gehorchen“ und auch „horchen“ ließ. Horchen in Tiefen, Zeiten und Sphären hinab, die dem Menschen sonst kaum zugänglich sind. So gesehen, könnte man, zugespitzt, auch fragen, ob es denn weiter verwunderlich sei, daß die Welt nicht nur von einem Überlieferungsbruch zum nächsten taumelt, sondern den Boten dieses Befundes, den Überlieferer, gleich mit drangibt?

Dabei hatte Ziegler durchaus seine gute Zeit. Doch diese starke öffentliche Beachtung galt eher dem Skeptiker, dem Frühwerk, vor allem dem Autor des „Gestaltwandels der Götter“ und des „Ewigen Buddho“. In ihnen hatte er die Entwicklung des religiösen Bewußtseins zum Thema gemacht und von den Tagen der antiken Götterbürokratie an aufgezeigt, wie zunächst die Renaissance die Axt an die Religion legte und dann das Zeitalter der Wissenschaften ihr mehr und mehr zusetzt hat. Als die beiden genannten Titel erschienen, da gehörten sie – ich folge hier Ludwig Marcuses Autobiographie „Mein 20. Jahrhundert“ – neben Spenglers „Untergang des Abendlandes“ und Blochs „Geist der Utopie“, neben Jaspers „Psychologie der Weltanschauungen“ und Graf Keyserlings „Reisetagebuch eines Philosophen“, neben Lessings „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen“ und Freuds „Das Ich und das Es“ zu den maßgeblichen philosophischen und kulturkritischen Lektüren. Ins Spektrum der jeweils aktuellen Kulturkritik paßte das fernere Werk Zieglers nur noch bedingt. Man kann es wohl kaum deutlicher machen als mit Hilfe von Namen: solange sich Ziegler von einer überkommenen Christlichkeit scharf distanzierte und sich die erneuernden Impulse gegen die westliche Intellektualisierung eher von den Kulturen Asiens versprach, zog er das Interesse eines Max Horkheimer auf sich; nachdem er aber mit der „Überlieferung“ von 1936 auf die abendländische und mehr noch christliche Hauptstrasse religiöser Überlieferung zurückgeschwenkt war, fand er das Interesse und die Freundschaft Reinhold Schneiders. Damit soll kein Gefälle unterstellt sein, wohl aber eine folgenreiche Wahrnehmungsverschiebung, wie sie für das Überleben seines Werks und seinen Eingang in den Kanon der philosophischen Debatten und wissenschaftlichen Traditionsbildungen entscheidend ist. An der Wende zu den sechziger Jahren fiel Ziegler dann zusammen mit der gesamten konservativen Kulturphilosophie einem weiteren Paradigmenwechsel zum Opfer: den ganzheitlich orientierten Denkern und Verfassern spekulativer Weltentwürfe, den Vertretern eines kosmischen Ordnungswissens, den Physiognomen eines aus der Fasson geratenen Zeitalters und den Entzifferern metaphysischer Wahrheiten sowie all jenen, die den Weg von der Analyse zur Synthese gegangen waren, von der Zergliederung zur Einheit, von der Gesellschaft zum Ordo. Kurzum: die Kassner und Kerenyi, die Pannwitz und Picard und wer sonst noch mit Ziegler in diesen Stollen eingefahren war, verloren damals an die Gesellschaftswissenschaften, was im heutigen Diskursdeutsch Deutungs- oder Definitionsmacht heißt.

Damit schob die philosophische und kulturwissenschaftliche Diskussion eine Tradition des Denkens leichthin beiseite, die auf der Kraft des Spekulativen und der Intuition beruht. Einer ihrer wichtigsten und bemerkenswertesten Vertreter ist Leopold Ziegler. In der Überzeugung, daß uns die Neuzeit mit ihrer Rationalisierung und Verwissenschaftlichung des Geistes entwirklicht, vereinseitigt und letztlich von unseren Ursprüngen abgeschnitten habe, stieß er von der Zeitdiagnose zur Ganzheit menschlicher Existenz vor, um ein Leben lang den verlorenen Mysterien auf der Spur zu bleiben und jene Botschaften auszulegen, die uns aus den Mythen, Religionen und Weisheitslehren der Völker zuströmen. Diese Totalität unserer Existenz neu zu verhandeln, schlug er das Buch der Geschichte abermals auf um unser Erbe im Rückgriff auf die gesamte Überlieferung zu erneuern.

Dazu war es notwendig, die neuzeitliche Denkbewegung vom Mythos über die Metaphysik zur Wissenschaft zu revidieren, denn in die Tiefen unseres Anfangs vorzustoßen, schienen zumal die positivistischen Wissenschaften mit ihrer empirischen Blickverengung und ihrem Kausalitätsdenken untauglich. Dies war keineswegs eine Absage an die Wissenschaften, mit deren Rüstzeug und Methoden Ziegler wohl vertraut war; imponierend auch die Fülle wissenschaftlicher Ergebnisse, die er auf seinen verschlungenen und vielschichtigen Erkundungsgängen aus allen Einzeldisziplinen einbezog – sie reichen von der Kosmologie, Biologie und Anthropologie über die Sozialwissenschaften bis hin zu Psychologie, Religion und den Kulturwissenschaften. Wo die empirische Wissenschaft allerdings Vernunft sagte, meinte Ziegler Geist, und er schloß darin Pneuma und Logos ein. Diese Erkenntnisform galt Ziegler als „Überwissenschaftlichkeit“ – ein Terminus, mit dem Ziegler nicht wissenschaftlicher als die Wissenschaftler zu sein beanspruchte, der aber andeuten sollte, daß es ihm um eine Synthese zwischen neuzeitlich-wissenschaftlichem und früh-menschlich-vorwissenschaftlichem Denken jenseits der Schulphilosophie zu tun war. Die Breite dieses Ansatzes hat ihre Entsprechung in den Stillagen; sie umfassen wägendes Argumentieren ebenso wie die kühne und wortmächtige Spekulation, das Reden in feurigen Zungen ebenso wie die Dichtung, das Meditieren und das Beten. Ebensogut Philosoph wie Theosoph, Gnostiker und Mystiker, war Ziegler bestrebt, das von der Neuzeit „gleichsam verlernte Alphabet des Weltgeistes mit seinen vielerlei Zeichen, Bildern und Runen“ neu zu entziffern – also durch die beschreibende und deutende Aufschließung menschheitlicher Archetypen und Urbilder etwas von unserer verlorenen Ganzheitlichkeit zurück zu gewinnen.

Von dieser Gegenläufigkeit zum institutionalisierten Wissenschaftsbetrieb war bereits in seinem ersten Hauptwerk „Gestaltwandel der Götter“ von 1920 vieles zu finden, das sich in seiner Haupttendenz dem religionskritisch-atheistischen Mainstream der Zeit noch weitgehend unterordnete. Wie schon David Friedrich Strauß im „Leben Jesu“ und Fritz Mauthner in „Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande“, folgte auch Ziegler ein Stück weit der Einsicht, daß die Kritik einer Erscheinung nicht zuletzt durch ihre Wort- und Begriffsgeschichte einzulösen sei. Doch anders als die beiden Genannten hielt Ziegler seinen Gegenstand nicht einfach für „erledigt“. Zwar schritt auch er durch die Tempel wie Herkules durch den Stall des Augias; und der „Gestaltwandel“ liest sich über weite Strecken wie eine philosophische Umschaffung von Goethes menschenstolzem Prometheus-Gedicht. Dennoch hatte für ihn das Wort von den „Mysterien der Gottlosen“ Bestand, und der Autor ließ keinen Zweifel daran, daß mit dem „Tode Gottes“ noch nicht das letzte Wort über die Religion selbst gesprochen sei, deren Rolle sich seiner Meinung nach schwerlich darin erschöpfen konnte, bloße Vorstufe wissenschaftlicher Weltauffassungen zu sein. Mehr noch: im „Ewigen Buddho“ in dem der „Gestaltwandel“ gewissermaßen weiter-, ja erst zu Ende gedacht war, entwickelte Ziegler eine ganz und gar innerweltlich aufgefaßte Religiosität: sie zielte auf eine „Gottwerdung des Menschen“ und meinte den „vollkommen selbstverantwortlichen Menschen“, der auch sein Heil nicht mehr von irgend einem Gotte abhängig wissen mochte. Diese „Religion ohne Gott“, in der entthronter Gott und entheiligter Mensch in Eins gedacht waren, war Ausdruck menschlichen Erlösungsbedürfnisses, und manche Kritiker sahen darin denn auch den Keim einer verkappten Gläubigkeit, erkannten darin wenn nicht schon Religion selbst, so doch Sehnsucht nach ihr. Tatsächlich kann man Zieglers damalige Position als frommen, auf Selbstheiligung des Menschen zielenden Atheismus lesen.

Gerade aufgrund solcher Paradoxien, in deren Bahnen sich bei Ziegler vieles bewegt, entging er der Gefahr – wie einst Nietzsche in seinem Rasen gegen Gott – Gefangener seiner eigenen Negation zu werden. Man könnte sich fast an die Legende aus der Vita des Hl. Wolfgang erinnert fühlen, nach der er den Teufel überlistete, ihm die Steine zum Bau seiner Kirche herbei zu schleppen – nur daß man sich dabei zu fragen hätte, hinter welcher der beiden Gestalten sich der Ziegler dieser Phase denn verberge. Sicher beantworten läßt sich diese Frage erst, seit dem „Gestaltwandel der Götter“ der Wandel seines Autors folgte. Dessen Äußeres Zeichen war das Zurückziehen des „Ewigen Buddho“ aus dem Handel in den dreißiger Jahren, weil dem Autor angeblich Fehler in der Darstellung unterlaufen seien – eine eigentliche Kehre in seinem Denken hat Ziegler indes bestritten. Für den Marburger Religionswissen­schaftler Ernst Benz hing dieser entscheidende Schritt vom Apostat zum homo religiosus mit dem tiefem Erschrecken über die Radikalität und Unausweichlichkeit der eigenen antichristlichen Konsequenzen zusammen, dem, wie er mutmaßte, eine wahre Höllenfahrt der Selbsterkenntnis gefolgt war.

Diese Deutung scheint mir plausibler als Zieglers Behauptung einer geradlinigen Entwicklung. Als Beleg möchte ich einen Satz aus der „Überlieferung“ zitieren, in der die menschheitlichen Urideen zum Thema werden. Der Satz, den ich als eine verkappte Selbstaussage verstehe, lautet: „Propheten sind keine Denker (…). Bevollmächtigte und Botschafter ihres Herrn, dem sie, sie wissen weshalb! nur immer nach einem heftigen Sträuben gehorchen, stehen sie zeitlebens in der schrecklichen Drangsal des göttlichen Anrufs“. Sollte ich mich über den Hinweischarakter dieses Satzes auf eine Art paulinischer Wende täuschen, so glaube ich doch bestimmt, Ziegler wisse doppelt, was er sagt, wenn er von der „schrecklichen Drangsal des göttlichen Anrufs“ spricht. Hat er sich doch an den Kaukasus seines selbstauferlegten Auftrags geschmiedet und auf verlorenem Posten ausgeharrt, um ein lebenslanges Rigorosum zu absolvieren, so daß man aus seinem Grabspruch „Ich habe gehorcht“ durchaus einen Beiton der Erleichterung über den erfüllten Auftrag heraushören kann: vielleicht nicht gerade im Sinne der „Erlösung vom Menschsein“, die der Meersburger Kollege auf seinem Grabstein kundtat, aber doch über die Entbindung von einem Zeugnisdienst, dessen Erfüllung er einer schwachen und leidenden Konstitution abgerungen hat.

Möge dem im Übrigen sein wie ihm wolle – um eine der von Ziegler gern gebrauchten Redefiguren aufzugreifen – : die „sakrale Wiederherstellung des Lebens“ wurde schließlich zu seinem Rhodos. Je länger er den verlorenen Mysterien auf der Spur blieb, desto unabweislicher wurde ihm zur eigentlichen und unmittelbarsten Vorstellung, was er selbst als „mythische Hieroglyphe Gott“ bezeichnete. In ihr erkannte er mehr und mehr Zentrum und Inhalt der urtümlichen Offenbarungen, Mythen und Seelentümer aller Völker und Zeiten – handele es sich nun um das Gilgamesch-Epos oder die Vedanta, die Upanishaden oder das Taoteking, Gnosis oder Kabbala, Evangelien oder Edda. Als ihren gemeinsamen Gegenstand erkannte er den „Ewigen-“ oder „Ur-Menschen“. Damit ist nicht gemeint, was – frei nach Max Frisch – im Holozän erscheint, sondern gewissermaßen der „Gesamt-“ oder „Allgemeine Mensch“, der an allen Epochen menschheitlicher Entwicklung Anteil hat und sich vom homo magnus zum Träger der Überlieferung emporgeläutert hat, um schließlich in Christus leibliche und geschichtliche Gestalt anzunehmen – Christus verstanden als historisch letzter Gott und Erstgeborener einer neuen Menschheit, der alle Offenbarungsgehalte vorgängiger Überlieferungen in sich aufsummiert.

Mit diesem Werk, das Ziegler bis zu seinem Tode im Jahre 1958 kontinuierlich fortführte – ich erwähne nur noch die zweibändige „Menschwerdung“ von 1948 und „Das Lehrgespräch vom Allgemeinen Menschen“ von 1956 – hat Ziegler die Geschichte noch einmal als Heilsgeschichte aufgefaßt – und zwar nicht von der kirchlichen Dogmatik her, sondern von einem esoterischen und integralen Verständnis menschheitlicher Überlieferung aus. Deren geistige und religiöse Manifestationen galten ihm gleichsam nur als Fragmente, Facetten und Varianten ein- und derselben Uroffenbarung. So sehr sich diese Varianten im Einzelnen auch widerstreiten mögen – in der Vorstellung einer kohärenten Gesamtüberlieferung, im Bild eines einzigen großen Chores kultischer Verehrung, in dem die religiösen Ausdrucksformen aller Zeiten zusammenschießen, liegt nicht nur etwas „Planetarisches“ und Menschheitsverbindendes, sondern auch die Herausforderung beschlossen, den Blick über das europäisch-abendländische Denken hinaus zu richten. Auch darf man nicht den antidiskriminatorischen Gehalt unterschätzen, der darin liegt, daß Ziegler den einzelnen Beiträgen zur menschheitlichen Überlieferung wenn nicht denselben Rang einräumt, so doch gleiche Achtung zollt. Herders universaler Humanitäts­gedanke liegt da ganz nah, daß durch die Mißachtung eines einzelnen Volkes, einer einzelnen Kultur immer auch die gesamte Menschheit beleidigt werde.

Nun darf man den zentralen Gedanken der Überlieferung nicht so verstehen, als hätte Ziegler seine Beachtung der menschlichen Frühzeit allein geschenkt. Philosophie war ihm ein anderes Wort für Weltverwurzeltheit und fand ihren Sinn allein im Dienst an der Gegenwart. Durch die Fragen der Zeit sah er sich darüber hinaus zu einer Reihe von Schriften veranlaßt, in denen er, in seinen eigenen Worten, zu den „Geschichtsgegebenheiten Nation und Staat, Person und Gesellschaft“ vorstieß. Bücher wie „Der deutsche Mensch“ und „Volk, Staat und Persönlichkeit“, „Zwischen Mensch und Wirtschaft“ oder die „Magna Charta einer Schule“ zeigen die Spannweite seines Interesses und bieten eine Zeitdiagnostik die einem vertieften Begreifen der Forderungen der geschicht­lichen Stunde galt.

Seine eigentliche Tiefenschärfe jedoch gewinnt Zieglers Geschichtsverständnis im „Heiligen Reich der Deutschen“ von 1925. Das zweibändige Werk steht in einer Reihe geschichtsphilosophischer Werke, zu denen Spenglers „Untergang des Abendlandes“ ebenso zählt wie Ernst Kantorowicz‘ „Kaiser Friedrich der Zweite“. Gemeinsam ist ihnen der Mythos als geschichtlicher Ort deutscher Vergangenheit, verbunden mit einer impliziten Ablehnung der Demokratie, durch die der Deutsche gewissermaßen säkularisiert und aus der prästabilierten Harmonie einer vorgegebenen Ordnung geworfen schien. Einerseits philoso­phisch-spirituelle Erneuerung, andererseits aufs Mentale gerichtete Pastoral, wurde Ziegler damit zum geistigen Rhapsoden des sacrum imperium, an dessen ins Große gedachtem Geist der Deutsche noch einmal gesunden sollte. Konkrete gesellschaftspolitische Restaurationsabsichten waren meines Wissens damit nicht verbunden; vielmehr war es dem Autor darum zu tun, das innere Gesetz eines spezifisch deutschen Menschseins herauszuarbeiten.

Dennoch wäre es unzulässig, Ziegler, der eher Vor- denn Antidemokrat war und dem die Vorstellungswelt westlicher Demokratien fremd blieb, in eine Vorläuferschaft zum Nationalsozialismus zu rücken. Nicht alle, die damals in Feindschaft oder Distanz zu Weimar verharrten und damit die Heraufkunft von 1933 begünstigten, haben diesen Weg auch beschritten. Auch Ziegler war für den plebejischen Appell an nationale Großmachtphantasien verloren; und wie weit er über Kyffhäusereien und völkische oder rassistische Phantasmen erhaben war, belegt nicht nur sein Buch „Der europäische Geist“ auf jeder Seite. Ziegler hat sich vielmehr, seit eine Machtübernahme des Nationalsozialismus in den Bereich des Möglichen gerückt war, auch unter persönlicher Gefährdung gegen Hitler erklärt und sich noch 1934 auf Wunsch seines bald darauf ermordeten Freundes Julius Edgar Jung nach Sorrent begeben, um Papen über Hitler aufzuklären. Heute mag uns dieser Versuch, schon jenseits von Weimar noch rasch den Teufel bei seiner Großmutter zu verklagen, in ebenso merkwürdigem Licht erscheinen wie jener Dichterkonvent am Ende des Ersten Weltkriegs, den Wilhelm Schäfer im Winter 1918/19 auf seinen frisch bezogenen Ludwigs­hafener Wohnsitz zusammenrief. Schäfer schrieb damals bereits an den „Dreizehn Büchern der deutschen Seele“, dem eigentlichen Trostbuch beschädigter nationaler Identität; in seinen Erinnerungen nannte er später Paul Natorp, Emil Strauß, Paul Ernst, Alfons Paquet, Hermann Herrigel, Leopold Ziegler und sich selbst „nichts als sieben erschütterte Menschen“, die von der geistigen Mission des deutschen Volkes überzeugt waren und nach ihrer Gemeinsamkeit suchten. Geriert haben sie sich indes als ein Notparlament des deutschen Geistes mit präzeptoralem Anspruch – selbsternanntes Rettungskomitee hochmögender Herren in zwölfter Stunde. An ihm ist Deutschland bekanntlich ebenso wenig gesundet wie am Forte dei Marmi-Kreis wenige Jahre zuvor; auch da hatte man versucht, rein aus dem Geist zu leben, um so die europäische Kultur an ihren Wurzeln zu verändern. Damit soll ausgedrückt sein, daß Zieglers Analyse wohl viele Aspekte der Wirklichkeit traf, seine gelegentlichen Gänge aufs Eis des Konkreten aber möglicherweise eben jener berühmte „Schritt zuviel“ waren. Gewisse stockfleckige Suggestionen aber, wie sie sich aus seinem Verständnis von Deutschheit ergaben, blieben um Welten von jener völkischen Kulturdemagogie entfernt, deren sich manche aus dem Schäferschen Kreise später befleißigt haben. „Das Heilige Reich der Deutschen“ aber hat sich den Charakter des großen geschichtsphilosophischen Wurfs bewahrt, und sein Gedankenreichtum ist bis heute einem vertieften Begreifen unserer eigenen geschichtlichen Situation dienlich – zumal man es nicht mehr vor der Folie einer bedrängenden Zeitkonstellation lesen muß, sondern es wieder ganz in den größeren Zusammenhang des zieglerschen Überlieferungsgedankens zurückstellen kann.

Wie die gesamte deutsche und Menschheitsgeschichte, sah Ziegler schließlich auch seine eigene Lebenslandschaft im Zusammenhang der Überlieferung. In seinem kleinen Essay „Der Bodensee“ entziffert er nicht nur ihre geschichtlichen und geistigen Konturen, sondern bis in ihre äußeren Erscheinungsformen, bis in die Morphologie der Uferbildungen hinein. Es wäre davon nicht weiter zu reden, erwiese sich Ziegler nicht selbst noch in einem so peripheren Text abermals als der große Synoptiker. Indem er den Bodensee ein europäisches Gewässer nennt, wähnt er die verschiedensten landschaftlichen Elemente des Ostens, des Nordens und des Südens in ihm vereinigt und glücklich austariert, und geschichtlich erscheint er ihm als die „Landschaft unseres deutschen Anfangs“. „Hier“, so schreibt Ziegler, „beginnt der Deutsche im Namen Gottes zu reden und zu pflanzen, zu bilden und zu bauen, zu dichten, zu singen und zu sinnen, hier setzt sich jeder Fußbreit der sichtbaren Landschaft draußen um in ein Stück Seelenlandschaft drinnen“. An diese religiösen und geistigen Traditionen hat Ziegler angeknüpft; und er war wohl der bedeutendste unter den zahlreichen Philosophen und Literaten, an denen der Bodensee ein spätes Mal seine alten spirituellen Binde- und Prägekräfte erfolgreich erprobt hat.

Hierher gekommen war der Karlsruher 1918 zusammen mit seiner Frau Johanna; 1925 übersiedelte er aus dem Hinterland von Lindau nach Überlingen, das über vier Jahrzehnte lang zu seiner Wohn- und Arbeitsstätte wurde. In ihrem Buch über Leben und Werk Leopold Zieglers schreibt die spätere Sekretärin und Vertraute Martha Schneider-Faßbaender: von den südlichen Zimmern aus überblickte man „den ganzen hellen See, das gegenüberliegende Ufer, grün, unbebaut, urlandschaftlich, die Alpenkette vom Tödi bis zur Cesaplana – königlich alle überragend wie ein heiliger Berg der Säntis, den die Überlinger denn auch unsern Olymp nennen. Im Arbeitszimmer stand der Schreibtisch am Fenster, der Arbeitende war der Herrlichkeit der Landschaft zugewandt“. 1958 ist Ziegler hier gestorben, nachdem ihm zwei Jahre zuvor der Bodensee-Literaturpreis der Stadt verliehen worden war. In der Verleihungsurkunde standen die Sätze: „Hier, in dieser das Herz gleichsam entengenden Landschaft, entstanden seine kultur- und religionsphilosophischen Hauptwerke. An der Ausgestaltung seiner harmonischen Weltschau darf der Bodenseelandschaft (…) das Verdienst einer unmittelbaren Mitwirkung zugesprochen werden“.

1938 schrieb ein Verehrer Zieglers in einem Brief in die Goldbacher Straße: „Es beschämt mich immer, daß ich nicht mehr und Besseres über Ihr Werk sage und den Widerhall des Innern nicht auf gebührende Weise bezeugen kann. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, es eines Tages zu können; mit einem Werke wie dem Ihren muß man jahrelang umgehen, man muß seine Wirkungen in wechselnden Verhältnissen erfahren und unter dem Fortgang der Geschichte überdenken, so wird man vielleicht dafür reif und einer gemäßen Äußerung fähig“. Die Worte Reinhold Schneiders seien aus einem doppelten Grund zitiert: einmal, um daran das Außerordentliche von Zieglers Denken zu behaupten; dann aber auch, um etwas von den Schwierigkeiten zu verdeutlichen, denen es heute begegnet. Mit einem Werk „jahrelang umgehen“, „seine Wirkungen in wechselnden Verhältnissen erfahren“, sie „unter dem Fortgang der Geschichte überdenken“: wie vielen und welchen Werken aus der Philosophie, der Literatur oder der Kunst mögen und können wir diesen Anspruch einräumen?! Daß er in Bezug auf Ziegler zu Recht besteht, sei hier einfach einmal unterstellt; davon handeln müßte ein Befugterer, der sich in diesem schieren Denkkontinent nicht nur gerade etwas herumgetrieben hat. Sprechen will ich aber im folgenden als Leser Zieglers, der nun einige Wochen lang – mit Theodor Lessings schöner Definition des Lesens gesprochen – versucht hat, den Gehalt dieser fremden Seele seiner eigenen einzuarbeiten.

Nun läßt sich von der ungeheuren Komplexität und Vielschichtigkeit dieses Werks in einem solchen Rahmen allenfalls etwas andeuten, und da ich hier ohnehin kein Porträt des Denkers geben kann, möchte ich ein paar Erfahrungen und Gedanken anfügen. Zunächst zu dem, was ich Zieglers beträchtliche, aber verborgene Aktualität nennen möchte. Ich wage das Wort entgegen allem Augenschein und entgegen allen Schwierigkeiten, die seine Lektüre bereitet. Lektüre? Schon hier stutze ich, der Ausdruck ist unzureichend, eher wäre ein Nachsinnen am Platze, das man gewissermaßen meditando vollzieht. Zu reden wäre auch von einer mitunter altfränkischen und vielfach redundanten Sprache, von den Barrieren einer uns fremd gewordenen, mitunter geheimnisvoll anmutenden Bild- und Begriffssprache, die bald auf mystisch-sphärischen Alphabeten, bald auf alchimistisch-astrologischen Geheimlehren beruht, Gnosis und Kabbala berührt, sich oft ins Entlegenste vergaloppiert und aus dieser Hermetik heraus so ausgreifende Argumentationsketten hervorbringt, daß man ihm nur zu gern jenes „Uff!“ nachspricht, das dem Autor als dankbare Quittierung seiner eigenen Denkanstrengung selbst einmal entfährt. Doch was immer man an solchen Schwierigkeiten auch nennen mag – es ändert nichts am Genie des Ganzen, dessen Wirkung freilich, wir stellten es eingangs fest, allmählich gegen Null treibt. Wenn wir uns nichts vormachen wollen, müssen wir uns das Paradox eingestehen: Ziegler ist für eine Wiederentdeckung wie geschaffen – und dabei wird es wohl bleiben.

Doch nicht auf Wirkung, sondern auf Aktualität wollte ich hinaus. Wenn wir auf sie horchen, dann können wir mit diesem Errat schlechterdings nicht anders umgehen als mit jenem Eckstein in der Bibel, den die Bauleute auch zuerst verworfen haben. Eines nämlich scheint mir ausgemacht: indem die Zeit Ziegler negiert und vergißt, was sie ihm schuldet, arbeitet sie letztlich für ihn, und je mehr sie ihrer eigenen Dynamik folgt und sich beschleunigt, desto mehr erhöht sie unwillentlich Richtigkeit und Brisanz seines Denkens. Diese Feststellung zielt auf den Kontrastwert Zieglers zu unserer Zeit, auf ihre blinde Selbstbezogenheit und ihre Hybris, deren Merkmale unter anderem allseitige Erklärbarkeit, Machbarkeit und Beherrschbarkeit heißen. Mit ihnen hat sich vor einiger Zeit der ehemalige Biochemiker Erwin Chargaff in seinem Aufsatz „Wehklage über das Verschwinden der Dryaden“ auseinander gesetzt, und zwar am Beispiel eines texanischen Physikers, der seinen Stolz über die Vernichtung animistischer Vorstellungen und vorrationaler Weltbilder durch die moderne Wissenschaft bekannt hatte. Chargaff schreibt: „Was er in Wirklichkeit haßt, sind nicht die grazilen Baum- oder Bergnymphen, es ist die ewige Infragestellung der Früchte aller exakten Naturwissenschaften durch die noch immer nicht ganz vernichtete menschliche Phantasie“. Und er fährt ganz im Sinne Zieglers fort: „Sind sie alle tot, Zeus und Hera, Apoll und Athene, Artemis und Hermes, Aphrodite und Demeter, die anderen Göttinnen und Götter und ihr riesiges Gefolge, sind sie alle tot? Religionen sterben nicht, sie lösen sich auf und scheinen vergessen zu sein. Aber ich denke, nichts kann auf dieser Welt verloren gehen, nichts, was einst die Seele des Menschen bewegt hat. Es sinkt ein in ein gleichsam kollektives Kryptogedächtnis der Menschheit, wie es geglaubt, gedacht, geschaffen worden ist. Wenn es nicht fortlebt, so stirbt es fort“.

Wenn man sich auf diese schöne Überzeugung, die Welt könne einmal Gedachtes nicht wirklich wieder verlieren, auch nicht verlassen darf, so möchte ich mich doch ein wenig auf sie einlassen. Anläßlich der Besprechung eines Buches von Max Picard hat Joseph Roth einmal gesagt, es sei Kennzeichen der echten Wahrheiten, daß man sie nicht zum ersten Mal zu hören, sondern sich ihrer zu erinnern vermeine. „Sie kommen gleichsam aus der großen Schatzkammer der Wahrheit, in die wir alle einmal – vor unserer Geburt – haben blicken dürfen, um sie sofort wieder zu vergessen“. Dieser eine Blick aber habe uns immerhin die Fähigkeit geschenkt, nach der Wahrheit zu suchen – nicht um sie als etwas Neues zu finden, sondern als etwas Altes, Ewiges wieder zu entdecken. Diese Sicht des Dichters hat – ein Menschenalter später – Erwin Chargaff in einer seiner Abrechnungen mit den „aggressiven Naturwissenschaften“ auf bemerkenswerte Weise bestätigt. „In seltenen Augenblicken“, schreibt er, „bemerke ich erstaunt, daß ich mancher Dinge inne bin, die ich in keiner Weise gelernt, erlebt, erdacht haben kann, als hätte ich sie bei meiner Geburt mitbekommen, gleichsam als Instinkt des Gewesenen. Es kann sich nicht um einen im oberflächlichen Sinne genetischen Prozeß handeln und gilt für vieles andere als Religionen (…). Der menschliche Geist ist ein Palimpsest, das sich unter den seltsamsten Umständen, und auch dann nur in Nanosekunden, in all seinen nur anscheinend einander verdrängenden Schichten offen darstellt“.

In den Büchern Zieglers wird dieser Palimpsest, wird seine Entzifferung Teil des Programms, und man kann sie als Antidot, als Gegengift lesen zu jenem verengten Weltverständnis, wie der fragwürdige Stolz unseres texanischen Gewährsmanns es beispielhaft vorgeführt hat. In ihnen wird wieder etwas deutlich von der Dignität der ersten und ältesten Dinge, dem Geheimnis und der Würde des Nichtdeduzierten, der Aura des Ursprünglichen. Ergebnisse einer großen Suchbewegung, tastet Ziegler in ihnen durch die Erscheinungsformen der Dinge, durch das Späte und Abgeleitete, Sekundäre und Bedingte hindurch nach ihrem urtümlichen Grund, um die Gegenwart in die Weltzeit zurückzustellen sie an die voraufgegangenen Kulturstufen wieder anzuschließen.

Nun ist Ziegler mit dieser Suchbewegung längst nicht mehr allein. Seit sich immer mehr Menschen bewußt geworden sind, daß die Dinge weiter zurück reichen, als unsere Schulweisheit sich träumen läßt, sind ungezählte esoterische Heilslehren und Glaubensersätze in die offenkundigen Erklärungslücken vorgestoßen. Wurden früher der Religiosität Tempel errichtet, gewahren wir heute in einer gigantischen Sinnindustrie allenthalben Tümpel, in denen die Uriellas im Drüben fischen. Damit haben wir freilich nicht die Krankheit, sondern nur das Symptom benannt – was aber die Diagnose betrifft, die auf „vernachlässigte spirituelle Bedürfnisse“ lauten müßte, so ließe sich bei Ziegler wieder ein Begriff davon gewinnen, wie man ihnen ernsthaft antworten kann. Dabei zähle ich es zu den großen Vorzügen seines Denkens, daß man ihm zwar – bei Strafe des Mißverstehens – bis in seine religiösen Ausdeutungen hinein folgen muß, daß es sich andererseits aber auch sozusagen ungläubig nachvollziehen läßt. Anders gesagt: Zieglers „sakrale Wiederherstellung des Lebens“ ist weit genug gefaßt, daß sie auch denjenigen noch um ein Erkleckliches bereichert, der das flectamus genua verweigert und als frommer Heide seine Verehrung staunenden Sinnes bezeugt, sie mit einem demütigen „Ignorabimus“ auf den Lippen abstattet. Mögen die Erstausgaben aus dem Reichl-Verlag von außen auch an protestantische Gesangbücher erinnern – Katechese und Glaubensbestärkung sind bei Ziegler nicht angesagt; und wenn er seine philosophischen Anfechtungen auch in seiner „Menschwerdung“ durch eine nachdenkende, ja nachbetende Auslegung der Vaterunserbitten überwunden hat, so sticht dem Leser doch niemals der Schweiß des Konvertiten in die Nase. Jede konfessionelle Verengung, alles Sektiererisch-Konventikelhafte ist ihm fremd – ja, indem er Christus als das Integral aller ihm vorausgegangenen Gottheiten und Gottesvorstellungen versteht, räumt er den unterschiedlichsten Überlieferungen unter dem Dach seiner „evangelischen Katholizität“ Hausrecht ein – ganz im Sinne des Wortes, daß im Hause Gottes viele Wohnungen sind. So hat Ziegler einmal gemeint, es könne unser Menschsein steigern, wenn wir die Stimme des Buddhismus im Abendland mittönen ließen; andererseits hat er eigene Zweifel nie ausgeblendet. In der „Überlieferung“ findet sich der christliche Glaube gar einmal als Vorleistung bezeichnet, als ein Sprung, bei dem es – welche Ungeheuerlichkeit! – nicht ausgeschlossen ist, daß „der Heiland dem mutigen Springer die rettende Hand gar nicht entgegenstrecke“. Kurzum: man erkennt in Ziegler weniger den Christen auf dem Wege der Menschwerdung sehen als den Menschen auf dem Wege der Christwerdung. Von einer „Pension Hoffnung“, die er in Konkurrenz zum „Hotel Abgrund“ der Frankfurter Schule als wohlfeile Absteige errichtet hätte, weiß ich jedenfalls nichts.

Doch ob wir diese undogmatische Gläubigkeit nachvollziehen oder nicht: Zieglers insgeheime Kraft, Altes und Ältestes im Heute zu vergegenwärtigen, bewirkt Entgrenzungen und Entengungen unseres Blicks, läßt uns der Schmalspurigkeit unseres heutigen Weltbewußtseins innewerden und stellt unsere Distanz zu den Beliebigkeiten unseres Lebens auf ein neues Fundament. Diese Ablehnung der Verbuhltheit mit dem Augenblick hatte Ernst Jünger im Sinn, als er in „Siebzig verweht“ über die Gewalt moderner Mythenzerstörung notierte, man dürfe nicht zu sehr Zeitgenosse sein, um Verluste noch empfinden zu können – und je mehr man es sei, desto weniger habe man die Chance, daß die Welt einem noch aus ihren Tiefen heraus antworte. Aus keinem anderen Grund auch hat Ziegler einmal formuliert, es werde zu seinem Ruhme vielleicht einmal nichts Größeres zu sagen sein, als daß er seiner Zeit nicht ganz und gar angehört habe.

Dieser intellektuelle Sicherheitsabstand Zieglers ist im dichterischen Werk eines Wahlverwandten geradezu verkörpert. Ich meine seinen Freund, Zeit­genossen und Landsmann Alfred Mombert. Dieser Hymniker der Schöpfung und Sänger des Äon charakterisierte sich selbst einmal als jemand, der mit seiner Dichtung einer kosmischen Zeit angehöre, „ehe denn die Berge waren – da Er die Himmel bereitete“. Und Mombert setzte in einem Brief an Hans Reinhart ironisch hinzu: „Daß die Herren Literaten, die alle 3 Jahre eine neue Literaturepoche brauchen, mich bereits der Lias-Formation zuweisen, berührt mich nicht“. Ob es auch Ziegler nicht berührt hat, der sich sein spätes Werk ohne ausreichenden Zuruf abringen mußte, weiß ich nicht; gewiß bin ich mir aber, daß sich aus diesem Lias-Abstand heraus einiges von den Selbstüberheblichkeiten unseres Zeitalters erkennen ließe. Beispielsweise die, daß unser Hier und Jetzt nicht alles ist und unsere Neuzeit gerade nur eine Weltminute; daß unser Bewußtsein wenig mehr ist als die in den hellen Tag ragende Spitze eines Größeren, das tief im Dunkel gegründet ist; daß unser Verstand immer ein unsicher tappendes Instrument in einem letztlich vergeblichen Weltbegreifen bleiben wird. Und so wenig man gegen das zur Floskel verkommene Schlagwort vom „Lernen aus der Geschichte“ einwenden kann – plötzlich liegt es wie das Epigramm neben dem Epos der zieglerschen Menschwerdung.

Es steht aber noch eine Gegenprobe aus. Eine ältere Weisheit will ja wissen, daß, wo Gefahr drohe, auch das Rettende wachse. Durch die Erfahrungen unseres Jahrhunderts gewitzt, hätten wir es jedoch eher mit Hans Jonas zu halten und zu fragen: müssen wir, nur weil wir bedroht sind, auch eine Rettung befürchten? Vestigia terrent – auf deutsch: wir können uns Arglosigkeit gegenüber Rettungsversprechen aller Art nicht mehr leisten. Der Unfug mit den Irrationalismen und Mythen in unserem Jahrhundert mahnt zur Vorsicht. Und doch scheint mir die Frage falsch gestellt zu sein. Nur weil Ziegler kein vorrangig aufklärerisch-rationales Denken pflegt, darf man ihn nicht wissenschaftlicher Regression zeihen oder seinen Anti-Modernismus der Reaktion zuschlagen. Schließlich muß sich, wer ihn liest, keinerlei Bewußtsein abschminken, wohl aber bereit sein, neben Ratio und Empirie noch etwas anderes zuzulassen. Auch wäre es unerlaubt, ihn gegen das Ideengut der Aufklärung auszuspielen; hingegen wäre viel von gegenseitiger Ergänzung zu erwarten. Der Begriff der Aufklärung deckt zwar im allgemeinen Verstand eine Überschätzung der Vernunft; andererseits ist sie der Inbegriff sich selbst übersteigenden Denkens, birgt ihre Korrektive also potentiell in sich selber. Ich sage potentiell und meine, sie könne dabei manches von der zieglerschen Kategorie der „Ergänzlichkeit“ lernen: Aufklärung plus Ernstmachen mit der beschränkten Zuständigkeit der Vernunft etwa, oder auch: Rationalität und deren Überschreitung in Richtung auf eine neue Ganzheitlichkeit. Die Moderne jedenfalls hat den Einspruch einer Philosophie vom Schlage Zieglers nötiger denn je.

Dem Schlaf der Vernunft keine Chance geben, so könnte man resümieren, der Vernunft aber auch nicht die volle Hegemonie überlassen. Alle Bedenken gegen eine Philosophie, die hinter die Moderne zurück will; aber wir haben auch guten Grund, einen Pluralismus zu fürchten, der den Widerspruch zu unserer Welt aus dem Geist des Ganzen nicht mehr lebendig hält und nicht immer wieder neu vertieft. Eben dies kann Leopold Ziegler leisten wie wenige sonst. Ich kenne – von Max Picard abgesehen – kein anderes Werk, das mit größerer Eindringlichkeit die Verluste bilanziert, mit denen unsere Gegenwart erkauft ist. Wo immer wir es aufschlagen, stoßen wir auf universale Zusammenhänge und Ergänzungen, mittels deren er eine Welt der Diskontinuität noch einmal in Eins denkt. Urzeit und Gegenwart, Gattung und Individuum, Kultus und Kultur, Mythos und Geschichte, Spiritualität und rationales Denken, Glauben und Wissen, Ost und West, Mensch und Natur, Männlichkeit und Weiblichkeit und was sich im Sinne der zieglerschen „Ergänzlichkeit“ sonst noch anfügen ließe – erst die Fülle, erst die in der Geschichte „aufgestapelte Potenz“ macht den Menschen, dem auf diese Weise die Synthese aller Zeiten, Kulturen und Daseinsformen aufgegeben ist.

So ließe sich am Ende noch eine Zukunft vorstellen, die sich der Tiefe ihres Fundaments bewußt ist, auf dem sie ruht; ein Denken auch, das nicht auf der Logik des Entweder – Oder, sondern des Sowohl – Als auch beruht, weil das Ausschließliche meist fragwürdig und kaum etwas ohne sein Gegenteil wahr ist. Darin lägen nicht nur Möglichkeiten für eine vertiefte Selbsterkenntnis, sondern auch für ein neues und angemesseneres Verhalten gegenüber der Welt. Lassen Sie mich diesen Gewinn mit einem Bild verdeutlichen, das Walter Benjamin einmal verwendet hat, um den trefflichen Johann Peter Hebel zu charakterisieren. Dieser, ebenso sehr Kosmopolit wie ein Mann des umgrenzten Bezirkes, hat die Welt seiner Geschichten bekanntlich mit dem milden Licht einer Aufklärung illuminiert, die die Frommen nicht begründungspflichtig erklärt und die Welt nicht entzaubert hat; einer Aufgeklärtheit auch, die weit genug war, um selbst noch einen paganen Kult zu umfassen, dem Hebel in antikischer Maskerade auf dem Altar des Belchen geopfert hat. Auch hier also ein Spektrum vom Mythos bis zur Aufklärung, von der Evokation alter Kulte bis zu lebendiger Zeitgenossenschaft, von der Religiosität bis zur Rationalität. Mit Blick auf Hebels Fähigkeit, diese Spannung nicht nur auszuhalten, sondern ihre Pole auch glücklich zu vereinen, hatte Walter Benjamin geschrieben: „Ein Bischofsstab, der sich im Familienbesitz forterbt, kann eines Tages so gut als peinliche Erinnerung verworfen werden wie die Jakobinermütze – nicht aber jene Brosche, auf der sich beide kreuzen“.